Putumayo: Off the beaten track

Putumayo: Off the beaten track

Was für eine Woche! Ich würde es meine persönliche Indiana-Jones-Woche nennen, denn es war die mit Abstand abenteuerlichste meiner ganzen Reise. Ich war in Putumayo, einer sehr ursprünglichen Region Kolumbiens, die vom Mainstream-Tourismus noch nicht entdeckt wurde.

Indigenes Kolumbien

Putumayo liegt an der Grenze zu Ecuador und Peru, ganz im Westen Kolumbiens. Hier leben zahlreiche indigene Völker, zum Teil sogar unkontaktierte. Die Region ist reich an Bodenschätzen, was lange Zeit für Konflikte sorgte. Die kolumbianische Regierung vergab Konzessionen an ausländische Firmen etwa für den Erdöl-Abbau, was dazu führte, dass die einheimischen Familien sukzessive ihr Land verloren.

Vor einigen Jahren haben die indigenen Gemeinschaften vom kolumbianischen Staat offizielle Landtitel für die Region zugesprochen bekommen. Seitdem dürfen sie selbst entscheiden, wer auf ihrem Land Öl abbauen darf. (Das funktioniert natürlich nicht immer ganz problemlos, aber das ist ein anderes Thema.) Obwohl das Leben in dieser Region aufgrund eines schlechten Arbeitsmarktes, einer schwachen Infrastruktur und extremer Wetterbedingungen immer noch schwierig ist, haben die Landtitel einen großen Unterschied für die Menschen dort gemacht.

Die Mutprobe

Lange hatte ich gezögert, ob ich in diese Region fahren sollte, denn Putumayo gilt nicht gerade als der sicherste Ort in Kolumbien. Doch nach dem Massentourismus-Overkill in Medellín und Salento fand ich die Alternative, in die Touristen-Zentren Cartagena oder Santa Marta weiter zu fahren, noch gruseliger als die Aussicht auf ein möglicherweise etwas waghalsiges Abenteuer. Putumayo ist im Lonely Planet noch nicht einmal auf der Karte verzeichnet, geschweige denn beschrieben. Die Wahrscheinlichkeit, dort auf nervige Party-Touristen zu treffen, ging also gegen Null. 

Jedoch hatten die auswärtigen Ämter diverser Länder Reisewarnungen für Putumayo ausgesprochen, da das Gebiet an ehemalige FARC-Gebiete grenzt und man mit unerwarteten paramilitärischen Aktivitäten rechnen müsse. Das Friedensabkommen mit der FARC liegt gerade etwas mehr als ein Jahr zurück, die Entwaffnung der Rebellen wurde erst vor einem halben Jahr abgeschlossen. Die Anspannung des gerade erst beendeten Bürgerkriegs liegt noch immer über den betroffenen Landstrichen. 

Letztlich entschied ich mich gegen den Mainstream und für das Risiko, denn ich war neugierig auf eine bestimmte Sache: die ungewöhnlich hohe Dichte an indigenen Schamanen, für die Putumayo bekannt ist. Also erwog ich meine Optionen, von Salento nach Mocoa zu kommen. Die Reise-Empfehlungen für Putumayo lauteten in etwa folgendermaßen: 1) Gar nicht fahren, wenn es nicht unbedingt sein muss, 2) wenn es sein muss, mit dem Flugzeug fliegen, 3) wenn fliegen nicht geht, dann keineswegs mit dem Nachtbus fahren, sondern am Tag. 

Solche Empfehlungen machen einem als Reisenden das Leben nicht gerade leichter. Denn sie mögen zwar ihre Berechtigung haben, führen aber am real Machbaren gern vorbei. Weder ließ sich von Salento aus eine vernünftige Flugverbindung finden, noch ein Tagbus. Denn sind wir mal ehrlich: Nachtbusse sind schon eine verdammt praktische Angelegenheit, aus vielerlei Gründen. Deshalb gibt es auf vielen Strecken in Südamerika gar keine Alternative.

Nachdem ich Salento verlassen hatte, fuhr ich mit dem Bus nach Pereira und wartete den ganzen Nachmittag auf den Nachtbus nach Mocoa, der Hauptstadt von Putumayo. Die Busfahrt dauerte 17 Stunden und von den Serpentinen mal abgesehen, war sie eigentlich recht bequem, wenngleich die Temperatur im Bus der eines Gefrierschranks glich. Nach all den Warnungen schlief ich die ganze Zeit in einem gewissen Alarm-Modus und erstarrte an jeder Haltestelle für einen Moment, weil ich hoffte, dass niemand den Bus stürmen und uns ausrauben würde.

Etwas unheimlich wurde die Fahrt, als der Bus plötzlich ohne ersichtlichen Grund in der Finsternis hielt und eine Gruppe Soldaten einstieg. Sie gingen durch den Bus, kontrollierten die Pässe und verschwanden wieder. Generell ist das Militär sehr präsent in Kolumbien. Obwohl sie eigentlich für Ruhe und Frieden sorgen sollen, fand ich die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten an jeder Ecke eher befremdlich. 

Ankunft am Ende der Welt

Gegen Mittag des nächsten Tages kamen wir in Mocoa an. Ich hatte ein Zimmer in einem Hostel gebucht, sechs Kilometer außerhalb der Stadt. Ehrlich gesagt gab es nicht viele Optionen zur Auswahl, ich musste quasi nehmen was ich kriegen konnte. Der Standard ähnelte dem Hostel in Puerto Maldonado, war aber nicht so ungepflegt. Als ich ankam, waren keine anderen Gäste dort. Das Hostel lag an einer Landstraße außerhalb der Stadt. Rings herum einfache Häuser bzw. Hütten, gegenüber betrieb eine Frau einen kleinen Kiosk, eine andere verkaufte Mittagessen vor ihrem Haus. Ich aß bei ihr eine typische lokale Mahlzeit bestehend aus Kartoffeln, fritierten Bananen, Bohnen und Hähnchen und entschied mich dann, den Rest des Nachmittags mit Schlafen zu verbringen. Ich war erschöpft von diesem extrovertierten Backpacker-Leben voller Smalltalk und ständiger Ortswechsel.

Schon nach dem ersten Tag in Mocoa konnte ich bestätigen, dass Putumayo eher was für Abenteuerer als für Anfäger ist. Es gibt kaum andere Touristen, eine begrenzte touristische Infrastruktur, buchstäblich spricht niemand englisch und außerhalb der Stadt lebt man mit dem, was auch den Einheimischen zur Verfügung steht. Luxus ist hier nicht mal mit Geld zu kaufen. Mit anderen Worten: Es war der perfekte Ort, um dem kommerziellen Tourismus und den Horden von Rucksacktouristen zu entkommen. Und zugleich eine Herausforderung, meine Komfortzone einmal mehr zu verlassen.

Wer nach Putumayo fährt, kommt nicht wegen der Attraktionen, denn die gibt es eigentlich nicht. Einzig für seinen Wasserfall El fin del mundo ist Putumayo bekannt. Mir war der Wasserfall nicht so wichtig, trotzdem machte ich mich auf den Weg in seine Richtung. Dummerweise beging ich den Anfängerfehler, mit zu wenig Wasser in der Mittagshitze aufzubrechen, was einen relativ schnell an seine Grenzen bringt.

Nach 20 Minuten Wanderung und dem Wasserfall immer noch fern, merkte ich, dass mein Kreislauf nach einem ebenso langen Rückweg sein Limit erreicht haben würde. Also kehrte ich um und ließ mich lieber in Ruhe durch das grüne Dickicht treiben. Außer einer kleinen Karavane Pferde sowie zweier ambitionierter Wanderer begegnete mir niemand auf meinem Weg. Ich war allein in diesem wunderschönen Wald, allein im Amazonas. Viele Leute haben mich gefragt, warum ich allein reise. Es sind Momente wie diese, die einfach unbezahlbar sind.

Wahrscheinlich hätte ich den Dschungelspaziergang deutlich weniger genossen, wenn ich gewusst hätte, was ich ein paar Tage später erfahren sollte: Nicht weit von der Gegend entfernt lebt ein Stamm Kanibalen ohne Kontakt zur Außenwelt. Als meine Gastgeber mir davon erzählten, hielt ich es zunächst für einen Scherz, doch sie insistierten, dass es die Wahrheit sei. Entgegen aller Warnungen kam ihnen ein Tourist einmal zu nahe und ward danach nie wieder gesehen…

Die Taita-Familie

Ich wollte Putumayo besuchen, um tiefer in die indigene Kultur einzutauchen und um mit einem einheimischen „Medizinmann“ an einem persönlichen Thema zu arbeiten. Dadurch, dass die Region noch nicht so sehr vom Kommerz erfasst wurde wie etwa die Amazonas-Gegenden in Peru, war die Wahrscheinlichkeit höher, hier auf eine unverfälschte Medizin-Tradition zu treffen. Putumayo ist bekannt für seine Dichte an indigenen Heilern – sogenannten „Taitas“ – im Umkreis der Gemeinden Sibundoy, Paso und Mocoa. Ich bat den Besitzer meines Hostels, mir einen vertrauenswürdigen Taita in Mocoa zu empfehlen. Daraufhin stellte er mir Miguel vor. Wobei „vorstellen“ so leicht dahin gesagt ist. Er rief ihn an und ließ mich mit ihm telefonieren. Meine Spanisch-Kenntnisse bewegten sich nach wie vor auf A1-Niveau und die Telefonverbindung war in etwa so gut als würden wir über ein Feld-Funkgerät sprechen. Nach einigen Schwierigkeiten gelang es uns, einen Termin zu finden und ein Treffen zu vereinbaren.

Am nächsten Tag brachte mich der Besitzer des Hostels mit dem Auto in die Stadt zu meinem Treffen mit Miguel. Wir hatten uns vor einem Supermarkt verabredet – ein denkbar unheiliger Ort. Nach ein paar Minuten tauchte ein kleiner, junger Mann um die 30 auf einem Motorad auf und stellte sich als Miguel vor. Ich hatte einiges erwartet, aber nicht das! So sehen hier Schamanen aus? Er bat mich, auf sein Motorrad zu steigen, damit wir in den Wald zu seinem Haus fahren. Nun ja. Was sagt man, wenn einen irgendwo in der Provinz Kolumbiens ein fremder Mann bittet, auf sein Motorad zu steigen, damit er mit einem in den Wald fahren kann? In diesem Moment gingen mir alle Sicherheitswarnungen durch den Kopf und mir war bewusst, dass ich gerade alles falsch mache, was man Südamerika-Reisenden für gewöhnlich empfiehlt. Wenn das meine Mama wüsste…

Die Taita-Familie: Miguel, Veronica, Julita, Sanya und Baby Nicolas.

Miguel war gerade mit seiner Familie in ein neues Haus gezogen, an dem immer noch viel gewerkelt wurde. Es war ein einfaches Holzhaus, das bezeichnenderweise keine Türen hatte. Als wir ankamen empfing uns bereits Veronica, Miguels Frau, begleitet von einem Papageien, einem riesigen Hahn und einem flauschigen Husky-Welpen. Die Familie gehört zum Volk der Kamënts̈á, das in Putumayo etwa 5000 Menschen zählt. Sie haben ihre eigene Sprache, die jedoch langsam ausstirbt, da junge Menschen sie nicht mehr lernen.

Nach einem ersten „diagnostischen“ Gespräch zu meiner Thematik empfahl Miguel, dass ich drei Tage bei ihm und seiner Familie bleiben solle. Am nächsten Tag kehrte ich also mit Sack und Pack zurück. Ich kann kaum beschreiben, wie außergewöhnlich diese Zeit für mich war! Die Einladung in das ungefilterte Leben einer indigenen Familie, die mir ihre (nicht vorhandenen) Türen und Herzen öffnete, war an sich schon eine sehr bewegende Erfahrung, auch ohne den ganzen Heilzauber.

Das Haus der Familie mitten im Nirgendwo: Es hat keine Türen, was sehr symbolisch ist. Während des Tages kommen regelmäßig Leute vorbei, die nach Hilfe fragen. Manchmal bleiben sie auch einfach für eine Weile auf der Veranda, um zu plaudern.

Curanderismo in Putumayo

Wie schon erwähnt, war es eine persönliche Angelegenheit, die mich hierher brachte und mich einen traditionellen indigenen Heiler aufsuchen ließ. All das plus eine riesen Portion Neugier auf eine Welt, die unserer so unglaublich unähnlich ist.

Traditionelle Medizin ist immer noch die Standardform der Behandlung in Putumayo. Wenn Menschen krank werden, gehen sie nicht zum Arzt mit einem Universitätsabschluss, sondern besuchen den Taita ihres Vertrauens, genauso wie alle Generationen vor ihnen auch. Taitas kümmert sich sowohl um körperliche als auch um geistige und spirituelle Fragen. Sie kennen den Wald wie ihre Westentasche und haben eine ganze Bibliothek über Heilpflanzen und deren Wirkungsweisen im Kopf. Ayahuasca ist eine von ihnen, wobei sie es hier „Yagé“ nennen.

Miguel entwarf für mich ein Behandlungsprogramm, das aus vielen verschiedenen Komponenten bestand – von Pflanzenbädern (in der Dusche, die sich denselben Vorhang mit der Toilette teilte) über einen sehr ekeligen Reinigungstrunk bis zu einer handgefertigten Körperlotion aus Dschungelpflanzen waren unterschiedlichste Darreichungsformen dabei. Außerdem vollzogen wir zwei sehr aufwendige Rituale. Für eines fuhren wir zu einem nahe gelegenen Fluss, in dem ich während des Rituals schwimmen musste. (Die Details der Rituale behalte ich für mich, da sie mir zu persönlich sind. Ein bisschen Geheimnis muss schließlich noch im Dschungel bleiben.)

Yagé war kein offizieller Teil meiner Behandlung, aber ich durfte trotzdem an einer Zeremonie teilnehmen. In Putumayo werden regelmäßig öffentliche Yagé-Zeremonien abgehalten. Menschen aus der Nachbarschaft kommen dann vorbei und nehmen teil, wenn sie es gerade benötigen. Unsere Zeremonie fand auf der Veranda des Hauses statt. Es war ganz anders als meine vorherige Ayahuasca-Erfahrung aus Peru.

Ein älterer Taita kam an diesem Abend zu Besuch und brachte eine Gruppe argentinischer Gäste mit. Sie hatten Schlafsäche dabei, die sie auf dem Boden ausrollten und sich daraus ein Lager bauten. Veronica und Sanya, die älteste Tochter der Familie, nahmen ebenfalls teil. Wir lagen jeder in einer Hängematte. Ich fragte, ob jemand nicht mittrinken würde. Von früheren Zeremonien wusste ich, dass es immer gut ist, wenn jemand mit klarem Verstand in der Nähe ist, der z.B. mit Toilettengängen helfen kann. Nein, war die Antwort. Alle trinken. Ich musste mir also selbst irgendwie helfen. Nun, ich hatte ja nach dem authetischen Weg gesucht. Da war er.

Irgendwie habe ich es trotz Yagé und Nachtblindheit geschafft, mich während der Nacht quer über den Hof zur Toilette zu navigieren, welche übrigens nur mir als Gast der Familie zur Verfügung stand. Die Argentinier mussten ihre Geschäfte in den Büschen erledigen. Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, Ayahuasca in der Hängematte zu trinken, fand es aber nicht die unangenehmste Erfahrung.

Sorry, nur für Jungs

Obwohl meine Spanischkenntnisse sehr begrenzt waren, gelang es mir, ein recht aufschlussreiches Gespräch mit Sanya zu führen, der ältesten Tochter der Familie und einer jungen Frau mit viel positiver Energie. Sie zeigte großes Interesse an der traditionellen Heilkunde und war mit den Lebewesen um sie herum, egal ob Mensch oder Tier, sehr einfühlsam und geschickt. Ich fragte sie, ob sie auch Taita werden wolle. „Das ist für Frauen unmöglich“ erklärte sie, „wegen ihres ‚Mondes‘ (ihrer Periode)“. Sanya sah in meinem Gesichtsausdruck, dass mich diese Antwort verärgerte und fragte, warum.

In vielen indigenen Kulturen gilt die Periode der Frau immer noch als etwas Unreines. In extremen Fällen gilt die Möglichkeit zu Menstruieren per se als Ausschlusskriterium für einen Heilberuf, in milderen (aber nicht minder ärgerlichen) Fällen verbietet der Schamane gerade menstruierenden Frauen die Teilnahme an einer Zeremonie.

Als Feministin, die gleichzeitig die Kultur meiner Gastfamilie respektieren wollte, war es ein gewisses Dilemma für mich, Sanya eine ehrliche Antwort zu geben. Ich sagte ihr, dass es im Amazonasgebiet auch Vöker wie die Shipibo-Conibo gibt, die eine sehr starke weibliche Heiltradition haben. Ihr Gesicht leuchtete auf, denn davon hatte sie noch nie gehört. In ein paar Wochen wird sie anfangen, Anthropologie an der Universität zu studieren. Ich hoffe, dass sie dabei noch viel mehr neue Dinge erfahren wird, die sie inspirieren, ihre indigene Identität zu leben und zugleich ihr Potenzial voll auszuschöpfen.

Mehr geht nicht

Ich bin unglaublich dankbar, dass ich diese wunderbare Familie kennenlernen durfte und hoffe, eines Tages wiederzukommen. Jetzt brauche ich etwas Zeit, um dieses Abenteuer zu verdauen. Anfangs wollte ich nach einem kurzen Aufenthalt in Bogotá an die Karibikküste fahren, doch die letzten Tage waren so bewegend, dass ich das Gefühl habe, es kann für mich in Kolumbien erstmal nicht besser werden. Daher habe ich entschieden, für meine letzten Tage in Südamerika an meinen zweitliebsten Lieblingsort Cusco zurückzukehren.